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1 Die Medialen haben alles Übel unter einer Schneedecke verborgen. Seht euch vor, und seid wachsam. Lasst nie wieder solch großes Leid über euch kommen. Aus einem Brief Aren Snows, geöffnet nach ihrem Tod im Jahr 2059 Das Gefühl von Trauer traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags. Alexei unterbrach seinen Lauf und blieb taumelnd im strömenden Regen stehen, als er unvermittelt erkannte, dass der unsagbare Schmerz nicht sein eigener war. Er spürte ein Brennen in den Augen und einen Kloß im Hals, aber Mann und Wolf wussten beide instinktiv, dass dieser Schmerz von außen auf ihn eindrang. Nur etwa einmal im Monat, wenn er sich ihrer in einer trostlosen Nacht nicht mehr erwehren konnte, ließ Alexei seiner eigenen Trauer freien Lauf, sonst hielt er sie fest in sich verschlossen. Dann rannte er als Wolf durch die Nacht und schickte ein zorniges Heulen zum kalten Mond hinauf; andere stimmten ein, doch er achtete nicht darauf. Sein Kummer war von Wut und Aggression geprägt und von dem dringenden Bedürfnis, ihn mit sich selbst auszumachen. Für seine Rudelgefährten war »Privatangelegenheit« gewöhnlich ein Fremdwort, doch in diesem Fall nahmen sich alle, mit Ausnahme der uneinsichtigen Dickköpfe, zusammen. Wahrscheinlich, weil sie wussten, dass Alexei sie mit einem Knurren zurück in die Höhle scheuchen würde. Seine Trauer hatte scharfe Krallen. Der Schmerz, den er heute spürte, war rein und ungezügelt, hilflos wie ein verwundetes Tier, dessen Pfote sich in einer tödlichen Falle verfangen hatte. Ein gebrochenes Geschöpf an einem lichtlosen Ort, allein und verängstigt. Ein fühlendes Wesen, das alle Hoffnung verloren hatte. Seine beiden Seiten konnten sich kaum bezähmen, es aufzuspüren und zu versuchen, seinen Schmerz zu lindern. Als dominantem Raubtiergestaltwandler war ihm ein ausgeprägter Beschützerinstinkt gegenüber Schwächeren angeboren. Und dieser machte angesichts solch herzzerreißenden Kummers keinen Unterschied, ob es sich bei dieser Person um ein Rudelmitglied, einen Wolf, handelte oder nicht. Alexei zwang sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Es gab nur einen möglichen Ursprung für diesen heftigen emotionalen Sturm, der durch seine Adern rauschte – es musste sich um einen E-Medialen handeln. Und nicht um irgendeinen. Um jemanden mit außergewöhnlichen Kräften, der seine Gefühle auf allen geistigen Kanälen aussendete, ohne sich darum zu scheren, wer von seinem Schmerz erfasst wurde. Alexei war erst mit zwei Personen, die dieser Kategorie angehörten, in Berührung gekommen. Eine davon kannte er besser, und er entsann sich noch, wie sie bei ihrem Treffen gelacht und ihn mit einer Freude angesteckt hatte, die er wie Wellen in der Luft empfunden hatte, die einen zarten verführerischen Duft mit sich führten. Dagegen war das hier ein Tsunami, jedoch ohne den Versuch, seine Sinne zu verwirren. Diese Empathin hier schrie ihren Kummer so laut heraus, dass er meinte, ihm müsse sein ohnehin schon wundes, blutendes Herz zerspringen. Dabei hatte sie ihn weder bewusst auserwählt noch versuchte sie auf irgendeine Weise, in seinen Verstand einzudringen. Dazu waren die emotionalen Wellen zu unkontrolliert und chaotisch. Ein Wolf würde sehr ähnlich auf den Verlust seines Partners reagieren, er würde den Kopf zurückwerfen und wildes Trauergeheul zum Himmel emporschicken. Und es wäre ihm ganz einerlei, ob irgendwer ihn hörte. Dies war kein Medialentrick, keine Falle. Alexei rannte in die Richtung, aus der ihm der unsägliche Kummer entgegenschlug. Noch wenige Augenblicke zuvor war er ungeachtet des Bewegungsdrangs seines Wolfs drauf und dran gewesen umzukehren. Das plötzliche Auffrischen des Windes machte ihm Sorgen, der Regen hatte sich in einen dichten silbrigen Vorhang verwandelt, der jederzeit in eisigen Hagel umschlagen konnte. Obwohl die Berge der Sierra Nevada in Kalifornien noch immer unter einer dichten Schneedecke lagen, die sich teils bis hinunter zu seiner Höhenlage erstreckte, war das Wetter trotz bedecktem Himmel annehmbar gewesen, als er die Höhle verlassen hatte. Jetzt war an eine Umkehr nicht mehr zu denken. Seine Stiefel flogen geradezu über die mit verschneiten Tannennadeln und welkem Laub bedeckte Erde, als er mit der Schnelligkeit des Wolfs im eisigen Regen durch den Wald sprintete. Hohe, weiß bestäubte Tannen streckten ihre Wipfel in den dunkelgrauen Himmel, bis sie nach kurzer Zeit kleineren Bäumen wichen. Wenig später hatte er auch sie hinter sich zurückgelassen. Selbst in den Sommermonaten konnte es so hoch oben in den Bergen bitterkalt sein, eine unwirtliche Gegend für größere Gewächse. In den letzten zwei Wochen war es jedoch für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm gewesen. Erste Grashalme spähten durch die Schneedecke, und zwischen den schroffen Felsspornen entdeckte er kleine, tropfnasse Wildblumen, die ihre Köpfe hoffnungsvoll der Sonne entgegenstrecken würden, sobald der Wolkenbruch überstanden wäre. Der Wind peitschte seine Haut, eisige Tropfen rannen über seinen Rücken, als er mit unverminderter Geschwindigkeit weiterlief, fest entschlossen, die Empathin zu finden, deren entsetzlicher Kummer ihm fast das Herz zerriss. Die Empathin. Ja, kein Zweifel, er nahm die Gegenwart einer Frau wahr. Als sendete sie zusammen mit ihrem Schmerz ein Echo ihres Wesens aus, als haftete den emotionalen Schockwellen ein Geruch an, den das Tier in ihm witterte. Sein Puls hämmerte, sein Brustkorb hob und senkte sich in kurzen Stößen. Er spürte die Unruhe seines Wolfs, der seine zweite Seite, seine andere Hälfte war. Sie waren eins … auch was den Fluch betraf, der auf seiner Familie lag und seinen Bruder das Leben gekostet hatte. In seiner Brust schlug das Herz des Gestaltwandlers, das hatte Alexei ebenso akzeptiert wie den Preis, den er dafür zahlte. Angespornt von seinem natürlichen Jagdtrieb rannte er weiter. Seine Rudelgefährten verirrten sich nicht oft hierher – das Umspannwerk, nach dem er während seines Laufs hatte sehen wollen, lag weiter westlich, eine halbe Stunde entfernt, und war aus anderen Richtungen besser erreichbar. Gut möglich, dass seit Monaten oder noch länger niemand mehr hier oben gewesen war. In jedem anderen Teil des SnowDancer-Territoriums wäre eine solche Sicherheitslücke höchst ungewöhnlich gewesen. Die Wölfe nahmen den Schutz ihres Reviers keinesfalls auf die leichte Schulter – aber für diese Region galten eigene Gesetze. Als Alexei den Leitwolf über seine beabsichtigte Route informierte, hatte dieser die eisblauen Augen zusammengekniffen. »War schon eine Ewigkeit nicht mehr in der Gegend.« Man hatte die Anspannung in Hawkes Muskeln gesehen, am Mahlen seines Kiefers. »Jedes Mal, wenn ich dort bin, sträuben sich mir die Nackenhaare.« Bei dieser unausgesprochenen Anspielung auf die grauenvollen Erlebnisse in ihrer Vergangenheit spürte Alexei von innen die Krallen an seiner Haut. Hawke war zwölf Jahre alt gewesen, Alexei erst vier, als die Medialen ihr Rudel feige und hinterlistig attackiert hatten. Mit dem Ziel, es von innen her zu zerstören, hatte eine Randgruppe von Wissenschaftlern Wolf um Wolf gekidnappt und ihren Verstand gebrochen, ihre Persönlichkeit ausgelöscht. Hawkes Eltern hatten dabei nicht überlebt. Tristan, sein starker, hervorragend geschulter Vater, war während einer Routinepatrouille in diesem Sektor spurlos verschwunden. Erst eine Woche später hatte man ihn gefunden, schwer verwundet durch einen vermeintlichen Sturz. Keiner hatte geahnt, dass die Medialen seinen Geist zerstört hatten, bis es längst zu spät gewesen und er im Schnee verblutet war. Hawkes Mutter Aren, eine begabte Künstlerin, hatte nach Tristans Tod weiterzuleben versucht, doch ihr Herz war in zu viele Einzelteile zersplittert, um wieder zusammengesetzt zu werden. Und so wachte sie eines Morgens einfach nicht mehr aus dem Schlaf auf. Daher war es nicht weiter verwunderlich, dass Hawke sich nicht gern hier aufhielt. Aber auch andere Gefährten mieden diese Region, was ziemlich überraschend war. Sogar der pragmatische ranghohe Soldat Elias hatte sich geschüttelt, als er Alexei vor dessen Aufbruch an diesem Nachmittag begegnet war. »Die Gegend ist mir nicht geheuer«, hatte er gemurmelt. »Kann ein Berg verflucht sein? Dieser kommt mir jedenfalls so vor.« Die Trauer der Empathin drückte sein Herz zusammen, Nägel durchbohrten seine Lunge. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte er seinen Weg fort, ohne sich um den trommelnden Regen oder die Gefahren zu kümmern, die das unwegsame, felsige Gelände barg. Er war ein Wolf. Ein Offizier. Und dies war SnowDancer-Territorium. Ihr Schmerz steigerte sich zu einem markerschütternden Crescendo … das zunehmend schwächer wurde, als Alexei weiterrannte. Er stoppte und ging ein Stück zurück, bis ein wimmerndes Schluchzen ihm verriet, dass sie ganz in seiner Nähe sein musste. Aber er konnte weit und breit niemanden sehen oder wittern. Dank seiner scharfen Augen vermochte er trotz des Regens die Umgebung weithin zu überblicken, zumal er sich oberhalb der Baumgrenze befand. Doch da waren nur Felsbrocken, Schneefelder – hier und da von einem Fleckchen grasbewachsener Erde unterbrochen, das das warme Wetter kürzlich freigelegt hatte – und in einiger Entfernung ein Falke, der auf dem kräftigen Luftstrom segelte. Es musste ein Gestaltwandler sein; für einen wilden Vogel war er deutlich zu groß. Aber das machte ihm keine Sorgen. Die WindHaven-Falken hatten dank einer Vereinbarung mit den SnowDancer-Wölfen das Recht, deren Land zu überfliegen. Außerdem hatte der Falke den Luftraum fast schon wieder verlassen, er war inzwischen nur noch als ferner Punkt erkennbar, wohingegen der grausame Schmerz immer präsenter, greifbarer und stärker wurde. Ihr brach das Herz. Der Wolf in ihm kratzte an der Haut, bis Alexei seinem Drängen nachgab und die Krallen ausfuhr, bevor er die umliegenden Felsen nach ihr absuchte, für den Fall, dass sie sich dahinter versteckte. Was angesichts der überschaubaren Anzahl und Größe eher unwahrscheinlich schien. Und wie sollte sie überhaupt hierhergelangt sein? Dieses Areal befand sich so tief im Herzen des Reviers, dass höchstens ein Teleporter es unbemerkt so weit hätte schaffen können. Eine Empathin mit der Fähigkeit, zu teleportieren? Alexei hatte noch nie von einer solchen Kombination aus geistigen Kräften gehört, was jedoch nicht bedeutete, dass es sie nicht geben konnte. Die Gestaltwandler und die Menschen wussten vieles nicht über die mediale Gattung, die sich mehr als ein Jahrhundert hinter einer Mauer aus kaltem Silentium vom Rest der Welt abgeschottet hatte. Das Programm hatte sie nicht nur in gefühllose Wesen verwandelt, sondern auch ihre Verbindungen zu jenen gekappt, die nicht im Medialnet verankert waren, dem Netzwerk, das alle Medialen auf dem Planeten miteinander verband, die Abtrünnigen ausgenommen. Über hundert Jahre lang hatten sie sich eisiger Perfektion verschrieben und die anderen Gattungen als minderwertig geschmäht, als primitive, von animalischen Bedürfnissen geleitete Geschöpfe. Seit einiger Zeit vollzog sich ein Wandel, mit der Folge, dass Alexeis Leitwolf eine gefährliche Kardinalmediale zur Gefährtin genommen hatte und zu Alexeis engsten Kameraden ein ehemaliger Auftragskiller mit telekinetischen Kräften zählte. Aber nicht einmal seine medialen Rudelgefährten und Freunde kannten sämtliche Geheimnisse ihrer Gattung – deren Führungsriege hatte die Wahrheit sogar vor den eigenen Leuten verborgen, zusammen mit Ungeheuern, Serienmördern und Psychopathen. In Wirklichkeit waren diese von Geburt an gefühllosen Individuen die Einzigen, die tatsächlich von Silentium profitierten. Wo war sie? Ein Knurren stieg in seiner Brust auf, als der Wolf die Führung übernahm und seine Sicht optimierte. Einem Beobachter wäre aufgefallen, wie das Grau seiner Augen einem hellen, mit goldenen Splittern durchsetzten Bernstein wich, die schwarzen Pupillen waren klein wie Nadelköpfe. Ein verblüffender Effekt, zusätzlich verstärkt durch seine Wimpern und Brauen, die viel dunkler waren als sein »sonnengelbes« Haar, wie seine Tante es beschrieb, das auch im nassen Zustand kaum etwas von seinem hellen Glanz einbüßte. Zum Glück übertrug sich die Farbe nicht auf sein Fell, seine Kameraden würden keine Gelegenheit auslassen, Witze über den »gelben Wolf« zu reißen. Dieser Schmerz, diese Qualen. Mit zusammengepresstem Kiefer versuchte er, die Witterung irgendeines lebendigen Wesens aufzunehmen. Da waren die Gerüche kleiner Tiere und eines wilden Vogels, sonst nichts. Hier gab es nur vom Regen vollgesogene Vegetation, Schnee und Gestein. Im trommelnden Regen sprang er über einen mächtigen Felsbrocken und kauerte sich dahinter, fand aber auch hier nichts als einen Berg Schnee, den der Schatten des Findlings vor der Sonne schützte. Abwesend schaute er über seine Schulter nach hinten, als sein Blick auf einen gezackten Spalt in dem Felsen traf. In ihrer Kindheit hatte Alexeis älterer Bruder einmal eine kleine Höhle hinter einer solchen Öffnung entdeckt und zu ihrem Geheimversteck erklärt. Brodie hatte ihn immer teilhaben lassen, vielleicht, weil er sich dachte, dass sie irgendwann einmal nur noch einander haben würden. Doch dazu war es nie gekommen. Konnte die Empathin dort drinnen sein? Mit äußerster Vorsicht überprüfte er diese Möglichkeit, darauf gefasst, dass seine Suche sich als vergeblich erweisen würde, weil er noch immer nicht einmal den Hauch einer Witterung auffing. Seines Wissens war es bis dahin noch niemandem gelungen, die olfaktorische Wahrnehmung eines Gestaltwandlers zu überlisten, sondern höchstens, den eigenen Geruch durch den der Umgebung zu verschleiern. Nur war der Duft von Regen und Feuchtigkeit dafür zu zart. Viel eher würde der tosende Wind jede mögliche Witterung mit sich fortreißen, bevor er ihn erreichte. Was aufgrund der unmittelbaren Nähe dieser Felsenspalte allerdings ausgeschlossen werden konnte. Der Durchlass war so schmal, dass er es nur mit Mühe schaffte, sich seitwärts hindurchzuzwängen, ohne die Hoffnung, dahinter auf ein lebendes Wesen zu treffen. Er witterte Kälte und Erde, sonst nichts. Jeder Wolf würde bestätigen, dass Kälte einen Geruch hatte. Schneekälte einen anderen als die Kälte von gefrorenem Erdreich, die sich wiederum von dem Geruch einer kalten Nacht unterschied. Als er sich gerade durch die Öffnung quetschte, platschte von einem Vorsprung am Fels eine Ladung Schnee in sein Gesicht, und er wischte ihn mit einem erbosten Grummeln weg. Im Nu hatten seine Augen sich auf Nachtsicht eingestellt und an die Dunkelheit gewöhnt. Der Hohlraum war winzig – versuchte Alexei, die Arme auszustrecken, scheiterte das selbst mit angewinkelten Ellbogen –, die Decke war niedrig … aber dort, im Boden … Was zur Hölle? Das Wasser, das von seinem Körper und aus seinen Haaren tropfte, hinterließ dunkle Flecken auf der Erde, als er in die Hocke ging und die sonderbar quadratische Vertiefung in Augenschein nahm. Diese war keinesfalls von der Natur so gestaltet, es sei denn, sie würde ihrer schöpferischen Tätigkeit inzwischen mit Maßband und Zollstock nachgehen. Sorgsam darauf bedacht, keine Geräusche zu erzeugen, kratzte er mithilfe seiner Krallen die oberste Erdschicht weg. Sie war hart und fest, als wäre sie seit Jahren nicht berührt worden. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr – ein Teleporter musste hierbei seine Hände im Spiel haben. Seine Krallen trafen auf Metall. Behutsam und hoch konzentriert arbeitete er weiter, bis er eine Falltür freigelegt hatte. Sie war von außen verriegelt, der Schließmechanismus auf eine Weise verbogen, die auf telekinetisches Einwirken hinwies. Nichts und niemand würde dieses Schloss jemals öffnen können. Es war von Rost überzogen, genau wie die robusten Metallscharniere und die aus massivem Eisen bestehende Falltür selbst. Sie war so alt, als stammte sie aus jener Zeit, als das SnowDancer-Rudel schwer verwundet worden war und viele seiner stärksten Mitglieder verloren hatte. Tiefer Schmerz, auf- und abbrandend. Er durchbohrte sein Herz. Sein Wolf knurrte, und Alexei schüttelte heftig den Kopf, um die überwältigende Trauer der Empathin daraus zu vertreiben. Wasser tropfte aus seinen nassen Haaren auf sein Gesicht, er strich sie sich ungeduldig aus der Stirn. Der Gedanke, dass ein Lebewesen in einem verfluchten Loch im Boden eingesperrt war, machte ihn rasend vor Zorn, trotzdem versuchte er nicht sofort, die Falltür aufzubekommen. Stattdessen zog er die Krallen wieder ein und holte sein Satellitentelefon heraus. Der Empfang war schlecht, doch die Nachricht ging raus. Sollte ihm irgendetwas zustoßen, würden seine Kameraden die gramerfüllte Frau finden. Und im Fall, dass es sich um eine clevere Falle handelte, um einen Wolf zu fangen, wären sie vorgewarnt und hätten Zeit, sich zu bewaffnen. Er schickte noch eine zweite Nachricht hinterher, in der er Hawke bat, nicht aktiv zu werden, solange er nicht einschätzen konnte, womit er es hier zu tun hatte. Es wäre unvernünftig, weitere Wölfe in dieses Mistwetter hinauszuscheuchen, wenn keine unmittelbare Gefahr für das Rudel bestand. Während er noch die Scharniere inspizierte, traf Hawkes Antwort ein. Falls wir innerhalb der nächsten zwanzig Minuten nichts mehr von dir hören, schwärmen wir aus. Er steckte das Handy in eine Seitentasche seiner schwarzen Cargohose und widmete sich wieder den Scharnieren. Sie waren die Schwachstelle der Konstruktion. Und ein Raubtiergestaltwandler mit Alexeis Statur und Ausbildung verfügte über immense Körperkräfte. Er war mit Sicherheit stärker als der Mediale, der dieses Konstrukt vermutlich erschaffen hatte. Theoretisch könnte auch ein Gestaltwandler oder ein Mensch dahinterstecken, aber das war unwahrscheinlich. Das Ding war zu groß, um in diesem beengten Raum angefertigt worden zu sein, jemand musste es hergebracht haben. Gleichzeitig wäre kein Mensch oder Gestaltwandler imstande, sich mitsamt einer Falltür oder auch nur deren Bauteilen unbemerkt über das Gelände zu bewegen. Nicht einmal in ihrem schwächsten Moment hatten die SnowDancer-Wölfe ihre Reviergrenzen in diesem Ausmaß vernachlässigt. Damit blieben nur die Medialen. Sie neigten dazu, die Kraft von Gestaltwandlern gewaltig zu unterschätzen. Das Problem war nur, dass es keine Möglichkeit gab, die Klappe irgendwie aufzuhebeln, keinen Spalt, um seine Krallen hineinzuschieben, keine Vertiefung oder auch nur die kleinste verformte Stelle, die ihm einen Ansatzpunkt geboten hätte. Er konnte es einfach aufgeben und seine Leute bitten, mit Werkzeug anzurücken, doch das wäre ihm wie ein Verrat an der Empathin vorgekommen, deren Weinen sich in seinem Kopf zwar abgeschwächt hatte, dafür aber umso verlorener klang. Ihr Kummer machte ihn fix und fertig, und er verspürte den irrationalen Drang, sie anzuknurren, um ihm ein Ende zu bereiten. Ein anderer Teil von ihm wollte sie in die Arme schließen, während er sie anknurrte. E-Mediale brauchten Berührungen so dringend wie Gestaltwandler. Sie litten, wenn sie ihnen vorenthalten wurden. Er würde sie an sich drücken, nahm er sich vor, wenn sie nur aufhörte, sich zu sehr zu grämen. Er wischte sich Wassertropfen aus dem Gesicht und wandte seine Aufmerksamkeit dem Schloss zu. Es würde sich niemals öffnen lassen, darum konzentrierte er sich auf die Stelle, an der es mit dem rostigen Eisen der Falltür verschraubt war. Mit gefletschten Zähnen, Arm- und Bauchmuskeln angespannt, packte Alexei den kompletten Mechanismus mit beiden Händen und zog mit aller Kraft daran. Einmal. Zweimal. Dreimal. Das Ächzen von Metall erklang, als ein Teil der Halterung von der Platte wegbrach. Ein letzter Ruck, und sie löste sich vollends. Er warf das verrostete Stück beiseite, zwängte die Finger in die Öffnungen, in denen das Schloss befestigt gewesen war, und stemmte die Klappe auf. Sie gab mit einem lauten Kreischen nach. Alexei hielt kurz inne, doch die emotionalen Strömungen brachen nicht ab. Er hörte keinen Alarm, keine lauten Stimmen. Und er nahm noch immer keine Spur von Leben wahr. Er lehnte die Klappe an die Wand, unbesorgt, dass sie wieder zufallen könnte. Ohne den Riegel würde sie sich mühelos von unten aufdrücken lassen. Dunkelheit gähnte ihm aus dem Loch entgegen, doch dank seiner Nachtsicht konnte er den Grund erkennen und schätzte einen Sprung als ungefährlich ein. Ohne länger zu zögern, ließ er sich nach unten fallen und ging in Lauerstellung. Eine Sekunde später vernahm er ein hochfrequentes Summen, das bewirkte, dass sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten und sein Wolf die Zähne bleckte. Gleich darauf fasste er sich wieder, als er begriff, dass das Geräusch von einer Glühbirne stammte; einem dieser alten Modelle, die zeitweise flackerten, bevor sie den Geist aufgaben. Staubpartikel tanzten in dem diffusen Lichtschein, den er aus einiger Entfernung bemerkte. Er folgte ihm zu der Quelle des Schmerzes. Bis eine von außen verriegelte und zusätzlich mit Vorhängeschlössern gesicherte Tür ihm den Weg versperrte. Ein Käfig. Sein Wolf verspürte inzwischen Mordgelüste, als Alexei die Tür genauer in Augenschein nahm und feststellte, dass sie aus schwerem, massivem Holz war, das wohl die meisten Eindringlinge abgeschreckt hätte. Alexei rammte die Krallen unter die Scharniere und zog mehrmals ruckartig daran, bis er einen Spalt geschaffen hatte, um das Holz richtig packen zu können. Er zerrte mit aller Macht daran. Da ebbte der tiefe Kummer der Empathin ein wenig ab. Dieses Mal hatte sie ihn gehört … aber er nahm keine Angst wahr, keine Panik, sondern nur eine besorgniserregende, von Trauer überlagerte Gleichgültigkeit. Eine Taubheit, die nicht auf mangelnde Gefühle zurückzuführen war, sondern auf unaufhörlichen Schmerz. Vielleicht sollte er sie lieber doch nicht anknurren. Was in Anbetracht der schlechten Laune, die er seit zwölf Monaten mit sich herumschleppte, eine Herausforderung wäre, aber eine Empathin zu erschrecken, war nichts, worauf man stolz sein konnte – das sähe aus, als wollte er seine Überlegenheit demonstrieren. Mit brennenden Muskeln ruckelte Alexei so lange an der Tür, bis er sie endlich aus den Angeln reißen konnte. Sie knallte mit einem dumpfen Schlag gegen die steinerne Tunnelwand. Kaltes, gedämpftes Licht strömte ihm entgegen. Er trat ein.
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2 Empathen wird gemeinhin ein tadelloser Charakter nachgesagt, aber ein fühlendes Wesen ist nun einmal kein zweidimensionales Abbild. Wir alle haben unsere guten und schlechten Seiten – genau dieser Umstand gab den Ausschlag für den Titel dieses Buches. Denn auch in der E-Kategorie schlummern gewisse Abgründe. Wie könnte es auch anders sein? Immerhin werden sie häufig mit den denkbar dunkelsten und gewaltsamsten Emotionen konfrontiert. Anmerkung der Autorin zu Das Geheimnis der E-Medialen: Empathische Gaben und ihre Schattenseiten von Alice Eldridge (Nachdruck: 2082) Sie saß in Kauerhaltung auf dem Fußboden und starrte zu ihm hin. Ihre dunkelbraunen, vom Weinen geröteten Augen wirkten riesig in dem herzförmigen, von glanzlosen schwarzen Locken umrahmten Gesicht mit dem spitzen Kinn und den vollen Lippen. Ihre braune Haut war fahl wegen des fehlenden Sonnenlichts, ihre Kleider – verblichene ausgebeulte Bluejeans, ein übergroßes schwarzes Sweatshirt, dazu abgetragene Sneakers – hingen formlos von ihrem Körper herab. Ihr Duft war eine Mischung aus Seife, Schweiß und einer eigentümlichen Schärfe, die er nicht benennen konnte. Sie hielt den Körper einer grauen Katze in den Armen, die einen leichten Verwesungsgeruch verströmte. Das dünne Fell war struppig, ihr haftete eine Gebrechlichkeit an, die Alexei sagte, dass sie nicht eines gewaltsamen Todes, sondern an Altersschwäche gestorben war. Die Empathin schmiegte das tote Tier schützend an ihre Brust, und als Alexei weder bedrohliche Absichten erkennen ließ noch sich ihr näherte, senkte sie den Kopf und fing wieder an zu weinen. Sie hatte keine Angst vor ihm, war zu verloren in ihrem Schmerz, der ihm in Wellen entgegenschlug, um das Raubtier in ihm zu erkennen. Oder sie tat es, aber es war ihr egal. Und da begriff er: Diese Katze war ihre einzige Verbindung nach außen gewesen, zum Leben. Alexei bezwang das Bedürfnis, zu ihr zu gehen und ihr Trost zu spenden. Vor allem anderen war er ein Offizier der Wölfe, sein Rudel hatte selbst oft genug unter den Medialen zu leiden gehabt. Stattdessen erkundete er den Rest des Bunkers, was nur wenige Minuten in Anspruch nahm. Er stieß auf ein Schlafzimmer, sauber und aufgeräumt, mit einem frei stehenden Kleiderschrank. Beim Anblick der darin aufbewahrten Kleider packte ihn solche Wut, dass er am liebsten die Tür aus den Angeln gerissen und Kleinholz daraus gemacht hätte. Daneben standen ein Katzenkörbchen, in dem sich neben einer Decke mehrere offenbar selbst gestrickte Spielzeuge befanden, und eine halbvolle Wasserschale. Kein Fressnapf, woraus er schloss, dass die Empathin mit den großen Augen ihre betagte Katze von Hand mit weicher Kost gefüttert hatte. Sie musste schrecklich in Sorge um ihr Haustier gewesen sein und es wie ihren Augapfel gehütet haben, wohl wissend, dass jeder Atemzug sein letzter sein konnte. Mit geballten Fäusten sah er sich weiter um. Ein kleines Duschbad mit Toilette grenzte an das Schlafzimmer, diesem gegenüber befand sich ein Raum mit einer Kochnische und einem Sofa, das auf einen Wandbildschirm blickte. Er konnte lediglich Fernsehprogramme empfangen, weil das Kommunikationsmodul, wie Alexei auf Anhieb erkannte, manuell entfernt worden war. Am anderen Ende des schmalen Flurs, unweit der Tür, die er zuvor gewaltsam aufgebrochen hatte, entdeckte er das Katzenklo. Es handelte sich dabei um eines jener Modelle, deren spezielle Streu als geruchlose Pellets im Müll entsorgt werden konnte. Der Abfallbehälter war mit einer Schütte verbunden, die aller Wahrscheinlichkeit nach zum selben Zeitpunkt wie die Rohrleitungen installiert worden war. Von außen war nichts davon zu erkennen, sonst wären die Wölfe längst darauf aufmerksam geworden. Alexei tippte darauf, dass sich hinter der Wand eine kleine Müllpresse oder ein Recyclingcontainer befand, den ein Teleporter problemlos auswechseln konnte, sobald er voll war. Und irgendwo daneben musste sich wohl ein Heizungssystem verbergen, denn anders ließ sich nicht erklären, dass im Bunker keine eisige, sondern eine angenehme Temperatur herrschte. Ein einfaches System wäre für Räume dieser Größenordnung ausreichend. Darüber hinaus gab es Hinweise auf eine erstklassige Klimaanlage, die Luft war kein bisschen abgestanden, sondern frisch. Er hätte darauf gewettet, dass sich die Ein- und Auslassventile ein Stück oberhalb am Berghang befanden. Sie mussten nur klein genug sein, um inmitten der schroffen Felslandschaft niemandem aufzufallen. Der Grundstein für das hier musste vor Jahrzehnten gelegt worden sein, als die Wölfe weder über die Mittel für Satellitenüberwachung noch das nötige Personal verfügt hatten, um regelmäßig in dieser Gegend zu patrouillieren. Ohne Zweifel hatten die Medialen, auf deren Konto dieser Bunker ging, mit detaillierten Plänen und hohem Tempo gearbeitet. Teleporter im Team verminderten das Risiko selbstverständlich beträchtlich. Dies war das perfekte Gefängnis, zumal es weitgehend ohne Wärter auskam. Und das war es auch schon. Es gab keine weiteren Türen nach draußen. Keine andere Beleuchtung als die altmodischen, batteriebetriebenen Neonröhren, die nichts mit natürlichem Licht gemein hatten und deren Brummen seine Ohren malträtierte. Er fand keinerlei Indiz dafür, dass hier schon einmal jemand anderes als die Empathin und ihre Katze gelebt hatte. Dabei war dieses Versteck viel älter als sie, das verrieten die Werkstoffe, die für den Bau verwendet worden waren, die maroden Wände und die in die Jahre gekommene Küchenausstattung. Wer immer die Frau hier eingesperrt hatte, war nicht der Architekt dieses Bunkers, der sich hervorragend dazu eignete, jemanden gefangen zu halten. Kein Schrei konnte nach draußen dringen; selbst ein Gestaltwandler, der direkt darüber stünde, würde nichts bemerken. Alexei wäre bei dem Versuch, die einzige Tür einzutreten, entweder verrückt geworden oder hätte sich jeden Knochen im Leib gebrochen. Die Empathin war nicht einmal stark genug, um auch nur einen Kratzer darauf zu hinterlassen. Sie hatte sich während seiner Erkundung nicht von der Stelle gerührt und drückte noch immer leise weinend das tote Tier an ihre Brust. Als Wolf hatte Alexei naturgemäß nicht viel für Katzen übrig – die einzigen beiden Ausnahmen waren ein neugeborenes Mitglied seines Rudels, das sich zu einer Leopardin zu entwickeln versprach, und dessen Mutter. Die kleine Belle würde die einzige Raubkatze mit »doppelter Staatsbürgerschaft« in einem Wolfsclan sein. Aber ungeachtet seiner ambivalenten Einstellung zu Katzen wusste Alexei, was es hieß, ein treues, innig geliebtes Haustier, das einen lange durchs Leben begleitet hatte, zu verlieren. Die Tatsache, dass ihres eines natürlichen Todes gestorben war, linderte die Trauer der Empathin nicht. Er ging ein gutes Stück entfernt vor ihr in die Hocke und zügelte seinen mächtigen Drang, sie in die Arme zu schließen. Sie war keine Wölfin und – noch wichtiger – er für sie ein großer fremder Mann. Benimm dich zivilisiert, Alexei. Sein Wolf trat einen Schritt zurück, während seine menschliche Hälfte bemüht war, kleiner zu erscheinen, weniger wie ein extrem gefährliches Raubtier mit scharfen Zähnen. Wenigstens hatten seine Augen wieder ihr natürliches Grau angenommen. Normalerweise ärgerte er sich über sein Gesicht – es war viel zu hübsch für einen Offizier –, aber in diesem Fall konnte es sich als nützlich erweisen. Als Erstes galt es herauszufinden, ob der TK-Mediale, der sie hier eingekerkert hatte, zurückkehren würde und ob er imstande war, nicht nur an Orte zu teleportieren, sondern auch zu Personen. Aber es wäre kein kluger Schachzug, sie mit diesen Fragen zu überfallen. »Verraten Sie mir den Namen Ihrer Katze?« Er legte einen möglichst weichen Ton in seine Stimme. Die Schultern der Empathin versteiften sich, sie beugte sich schützend über das tote Tier in ihren Armen. Alexei begriff, dass es müßig wäre, zuerst ihr Vertrauen gewinnen zu wollen, was Zeit und Geduld erfordern würde, ehe er sie in Sicherheit brachte. Er änderte seine Taktik mit der Schnelligkeit seines Wolfs. »Ich bin Alexei vom SnowDancer-Rudel, und ich werde Sie hier rausholen. Sie wurden von einem Teleporter hergebracht, ja? Wissen Sie, ob er Ihr Gesicht als Portschlüssel benutzen kann?« Dazu waren zwar nur die wenigsten TK-Medialen mit der Fähigkeit zu teleportieren imstande, trotzdem durfte er diese Möglichkeit nicht ausschließen. Auf das sekundenlange Schweigen der Empathin folgte ein unsicheres Kopfschütteln. »Dann los.« Er konnte auf sich selbst aufpassen, war robust genug, um keine Knochenbrüche befürchten zu müssen, wenn er mittels telekinetischer Kräfte gegen eine Wand geschmettert würde. Sie hatte diesen Vorteil nicht, sondern könnte umstandslos von einem Teleporter geschnappt und weggebracht werden, während er kampfunfähig wäre. Nicht ohne Grund hatten dem inzwischen abgeschafften Rat auch TK-Mediale angehört. Diese Mistkerle waren harte Gegner. Alexei stand auf und holte die Strickdecke aus dem Katzenkorb im Schlafzimmer. »Wickeln Sie sie darin ein«, schlug er vor, in dem Wissen, dass sie den Leichnam keinesfalls zurücklassen würde, und wenn ihr Leben davon abhinge. »Wir begraben sie, sobald wir in Sicherheit sind.« Keine Antwort. Er musste sich beherrschen, sie nicht anzuknurren, um sie zur Eile anzutreiben. »Wenn Sie sich nicht in Bewegung setzen, kommt der Teleporter zurück, und Sie bleiben in Gefangenschaft.« Als sie noch immer keine Anstalten machte, holte er zu einem Schlag unter die Gürtellinie aus. »Genau wie Ihre Katze.« Seine groben, scheinbar gleichgültigen Worte rissen sie abrupt aus ihrer Starre. Sie versuchte, sich mit dem Kadaver auf den Armen auf die Füße hochzukämpfen, aber ihre Beine wollten ihr nicht richtig gehorchen, als hätte sie zu lange in ihrer Position ausgeharrt. »Ich helfe Ihnen auf.« Alexei wartete kurz, und als kein Protest erfolgte, ergriff er sie bei den Oberarmen und zog sie hoch. Sie war zart wie ein Vögelchen. Die Lebensmittel in der Küche belegten, dass derjenige, der sie hier festhielt, kein Interesse daran hatte, sie verhungern zu lassen, aber gefangene Geschöpfe hörten oftmals auf zu essen. Mit zusammengebissenen Zähnen vergewisserte er sich, dass sie ihr Gleichgewicht nicht verlor, bevor er einen Schritt zurücktrat und die Decke ausgebreitet über seine Arme legte. Ihre Unterlippe zitterte, als sie die Katze hineinbettete und das Bündel hastig an sich nahm. Worauf Alexei kurz in der Wohnküche verschwand und den Metallstuhl holte, den er dort gesehen hatte. Die Empathin folgte ihm, ohne dass er sie erst dazu auffordern musste. Bei der Falltür angelangt, stellte er den Stuhl direkt darunter und schaltete die Taschenlampe seines Handys an. Sie hatte nicht die Augen eines Wolfs, konnte im Dunkeln nicht gut sehen. »Wir werden uns jetzt beide hier draufstellen, damit ich Sie durch die Öffnung heben kann.« Er streckte ihr die Arme hin, um ihr die Katze abzunehmen. Das arme Tier hatte vermutlich sein ganzes Leben in einem Käfig zugebracht; der einzig tröstliche Gedanke war, dass es ihm offenkundig nicht an Liebe gemangelt hatte. »Ich werde sie Ihnen anschließend hinaufreichen.« Ihr Blick zuckte zu der Falltür, ein unerwarteter Ausdruck wilder Entschlossenheit zeichnete sich plötzlich auf ihrem Gesicht ab. Anstatt ihm ihr Bündel zu übergeben, legte sie es sacht, beinahe zärtlich auf den Boden. Alexei nutzte die Zeit, um seine Jacke auszuziehen und sie der Empathin anzubieten. Er hatte nach ihrer eigenen Ausschau gehalten, als er die Decke geholt hatte, jedoch keine entdeckt. Das Sweatshirt, das sie trug, schien ihr wärmstes Kleidungsstück zu sein. Nach Lage der Dinge lief er nicht Gefahr, ohne seine Jacke zu erfrieren; tatsächlich hatte er sie nur angezogen, weil die hochschwangere Heilerin sie ihm wortlos mit diesem »Zieh sie an, oder du lernst mich kennen«-Blick hingehalten hatte. Alexei fürchtete Laras Zorn nicht, aber er wollte sie in ihrem Zustand auf keinen Fall aufregen. Also hatte er das verdammte Ding angezogen und war angesichts des eisigen Regens am Ende sogar froh darüber gewesen. Auch ein Wolf war nicht gern nass bis auf die Knochen. Die wasserfeste, dick gefütterte Jacke sollte die Empathin vor Unterkühlung schützen, solange sie im Freien waren. »Draußen herrschen winterliche Temperaturen«, warnte er sie, als sie zögerte. »Sie können nicht schnell genug laufen, wenn Sie starr vor Kälte sind.« Sie schlüpfte hinein und zog den Reißverschluss zu, dann half er ihr rasch dabei, die Ärmel hochzukrempeln. Er stieg auf den Stuhl und verließ sich darauf, dass er ihrer beider Gewicht zumindest so lange tragen würde, bis er die Empathin nach draußen befördert hätte; er selbst würde es ohne Hilfe schaffen. Das Kinn entschlossen vorgeschoben, die Augen der Freiheit entgegengerichtet, gesellte sie sich mit ungelenken Bewegungen zu ihm. »Eins, zwei, drei.« Er fasste sie um die Taille und hob sie hoch. »Stützen Sie sich mit den Unterarmen am Rand der Öffnung auf.« Sie schaffte es beim ersten Mal. Diese Empathin mochte leicht wie eine Feder und voller Trauer sein, doch ihren außergewöhnlichen Kräften tat das keinen Abbruch. Er gab ihr noch einen kleinen Schubs, dann wartete er, um sie aufzufangen, falls sie abrutschen sollte. Was nicht passierte. Stattdessen wandte sie ihm von oben ihr zartes Gesicht zu und sah ihn aus ihren großen Augen mit einem unergründlichen Blick an. Er hob die Decke mit der Katze darin vom Boden auf, stieg wieder auf den Stuhl und reichte sie ihr. Sie lehnte sich so weit über die Kante, dass er schon dachte, sie würde fallen, doch sie schaffte es, das Bündel ohne Missgeschick entgegenzunehmen. Trotzdem zog sie sich nicht gleich zurück. »Beeil dich!« Die heiser geflüsterten Worte bewirkten, dass sich seinem Wolf das Fell sträubte und er die Ohren aufrichtete. »Er liebt nichts mehr, als jemandem Schmerzen zuzufügen.« Sie war ganz sicher eine Empathin – sie sorgte sich selbst dann noch um andere, wenn ihr eigenes Leben in Gefahr war. Genau wie die Heilerinnen seines Rudels, denen er tunlichst aus dem Weg ging. Manchmal wollte ein Mann einfach in Ruhe seinen düsteren Gedanken nachhängen. Es war ihm ein Rätsel, wie Lara ihn heute erwischt hatte. Sein Wolf war überzeugt, dass sie und die Mütter unter einer Decke steckten, es in der Höhle ein geheimes Informationsnetzwerk gab. Und jetzt musste er diese kleine Heilerin in Sicherheit bringen. Das Raubtier in ihm täte zwar jetzt nichts lieber, als sich auf die Lauer zu legen und ihren feigen Entführer in Stücke zu reißen, aber sie hatte Vorrang. Er stieg vom Stuhl und verrückte ihn ein klein wenig, bevor er bis zu der gewaltsam geöffneten Tür zurückging, um Anlauf zu nehmen. Sein Wolf hatte die Kontrolle übernommen, als er mit unfassbarer Geschwindigkeit lossprintete und den Stuhl als Sprungbrett benutzte, um sich nach oben zu katapultieren. Er bekam die Kante der Luke zu fassen und stützte sich mit dem Fuß an der Wand ab. Die Empathin wich, erschrocken über sein plötzliches Auftauchen, zurück, dann beobachtete sie mit angehaltenem Atem, wie er sich aus der Öffnung hochstemmte. Er schloss die Falltür und beschwerte sie mit einem großen Stein, den er in der Ecke entdeckt hatte. Für einen TK-Medialen wäre das zwar kein Hindernis, aber ob er über irgendwelche visuellen Koordinaten außerhalb dieses Bunkers verfügte, war eine Frage, die Alexei nicht beantworten konnte. Jedenfalls würde er kein Risiko eingehen und die Empathin so schnell wie möglich von hier wegbringen. »Es ist stürmisch, und der Regen könnte in Schnee übergehen«, warnte er sie. »Du wirst nass werden und frieren.« Sie zuckte nicht mit der Wimper, stattdessen sah sie ihn mit einer stoischen Ruhe an, die ihn in Alarm versetzt hätte, wäre er nicht sicher gewesen, dass sie nicht vorhatte, in seinen Kopf einzudringen, sie keine starke Telepathin war, die mit Gewalt in seinen Geist eindringen wollte. Dagegen sprach nicht nur die Tiefe ihrer Trauer, sondern auch die Behutsamkeit, mit der sie ihre tote Katze in den Armen hielt. Alexei hatte auch nie gehört, dass E-Mediale Gewaltakte verübten, außer in Notwehr, und selbst dann musste man sie zum Äußersten treiben. Darum würde er sich auf seinen Instinkt verlassen und ausschließen, dass sie eine feindliche Agentin war. Das hätte schließlich auch keinen Sinn ergeben – denn wäre das Ganze eine Falle, hätte sie einen erheblichen Aufwand an Zeit und Geduld gekostet, ohne jede Gewissheit auf Erfolg. Er zog sein Handy heraus und schickte Hawke eine Nachricht. Habe die Empathin befreit. Bringe sie zum Umspannwerk. Es war in kilometerweitem Umkreis der einzig sichere Zufluchtsort. Sie ist keine Bedrohung. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Bist du ganz sicher, Lexie? Womit er ihn zwischen den Zeilen daran erinnerte, dass die Medialen sich von Silentium abgewandt haben mochten, viele von ihnen ihr Volk jedoch immer noch für das überlegenere hielten und die Gestaltwandler und die Menschen als minderwertige Gattungen betrachteten, die man nach Belieben manipulieren und benutzen konnte. Hundertprozentig, versicherte er seinem Leitwolf. Sie fürchtet mich mehr als ich sie. Diese sonderbare Gleichgültigkeit war verschwunden, neben ihrem Schmerz witterte er nun auch den beißenden Geruch von Angst an ihr – und dennoch hatte sie ihn aufgefordert, sich zu beeilen, anstatt nach ihrer Befreiung zu versuchen, davonzulaufen. Ich melde mich, wenn wir bei der Trafostation sind – wird ’ne Weile dauern. Er versenkte das Handy wieder in seiner Hosentasche. »Wir können deine Katze nicht allzu weit mitnehmen.« Da er sich seiner einschüchternden Statur überdeutlich bewusst war, bemühte er sich um einen ruhigen, beiläufigen Ton. Bevor seine Welt in die Brüche gegangen war, hatte man ihn schon bis zum Äußersten reizen müssen, um ihm ein Knurren und Zähnefletschen zu entlocken. Er versuchte, diesen alten Alexei wiederzuerwecken. »Wir haben mindestens dreißig Minuten Fußmarsch vor uns.« Nein, so lange brauchte ein Wolf. Bei ihrem Tempo würde es um einiges länger dauern. Sie drückte die Katze noch etwas fester an sich, als sie nickte. »Draußen«, flüsterte sie. »Unter freiem Himmel.« Sein Blut kochte vor Zorn, er wollte ihrem Peiniger an die Gurgel gehen. »Unter freiem Himmel«, versprach er und zwängte sich als Erster durch den Felsspalt, um zu prüfen, ob die Luft rein war. Der Regen hatte noch immer nicht nachgelassen, aber er war zumindest nicht in Schnee übergegangen. Die Empathin folgte dichtauf, und obwohl sie binnen Sekunden klatschnass war, sah sie mit strahlenden Augen zu dem dunkelgrauen Himmel hoch, ihr Gesicht von einem Glorienschein wilder, windumtoster Locken umrahmt. In diesem Moment erschien sie ihm wie die personifizierte Freiheit. Sein Wolf beobachtete sie mit anerkennender Miene. »Lass mich sie nehmen.« Alexei streckte die Hände nach der Katze aus. »Sie behindert dich nur, und wir dürfen keine Zeit verlieren.« Sie ließ den Blick über das felsige, unwegsame Terrain schweifen, bevor sie sein Angebot annahm. Ihre Lippen waren ein einziger Strich, und bestimmt mischten sich Tränen unter die Regentropfen auf ihrem Gesicht. Obwohl Alexei die Art von Körperprivilegien mied, die seine Rudelgefährten liebten und brauchten, hatte er nie jemandem eine Berührung verweigert. Das gehörte dazu, wenn man ein dominanter Wolf und Offizier war. Die Empathin verzehrte sich nach Trost, aber nähme er sie in die Arme, würde sie vermutlich schreien. Sogar sein Wolf verstand, dass sie die Dinge langsam angehen mussten. Er biss die Zähne zusammen und bezähmte seine instinktive Reaktion. »Folge mir, und setze deine Füße dahin, wo ich es tue.« Ihre Schritte waren tapsig und ungeübt, aber sie kam voran. Alexei merkte ihr an, wie schwach sie war – sie war zu dünn, ihre Bewegungen wirkten unkoordiniert –, und behielt sie im Auge, bis er nach zehn Minuten zum ersten Mal stehen blieb. Er hatte eine Route über eine sachte Anhöhe gewählt, hinter der sie von dem geheimen Bunker aus nicht mehr zu sehen waren. »Hier?« Die Stelle, an der er haltmachte, wäre an einem wolkenlosen Tag in Sonnenlicht getaucht. Sie nickte atemlos, nahm sich ein Stück zerbrochenes Gestein und fing an zu graben. Alexei legte die Katze auf den Boden und kam ihr mit seinen Krallen zu Hilfe, um den Fortgang zu beschleunigen. Ihre Augen weiteten sich kurz, dann arbeiteten sie Seite an Seite in dem eisigen Regen weiter. Sie brauchten nicht lange, um das kleine Grab auszuheben. Vorsichtig bettete sie den Leichnam hinein, bevor sie ihn weinend mit vor Kälte zitternden Händen mit Erde bedeckte. Alexei begriff sofort, was sie vorhatte, als sie Steine zu sammeln begann, und half ihr, sie auf das Grab zu schichten und festzuklopfen. Bevor sie ihr Werk beendeten, ritzte er sich mit einer scharfen Kante eines Steins in den Finger. Der Empathin entfuhr ein leiser Schreckenslaut. »Das wird verhindern, dass Tiere ihre letzte Ruhe stören«, erklärte er und bestrich die inneren Steine und die Fugen dazwischen, wo der Regen es nicht wegwaschen würde, mit seinem Blut. Jedes Lebewesen in der Gegend wusste, dass die SnowDancer-Wölfe die gefährlichsten Raubtiere weit und breit waren. Indem er seine Markierung hier hinterließ, sorgte er dafür, dass jeder Aasfresser oder neugierige Streuner einen weiten Bogen um den Grabhügel machen würde. »Sie ist hier sicher«, beruhigte er die Empathin. Der strömende Regen hatte ihre Lockenpracht in einen strähnigen Vorhang verwandelt, der ihre hohen Wangenknochen in ihrem ausgezehrten Gesicht betonte. Still und mit ans Herz gehender Präzision legte sie die letzten Steine nieder. »Adieu, Jitterbug«, wisperte sie, mit einer Hand auf seinem Grab. »Danke, dass du mein Freund warst.« In Alexei flammten Zärtlichkeit und Mitgefühl auf. Die Tiefe ihrer Trauer zusammen mit dem gebrochenen Eindruck, den sie erweckte, teilte ihm zu viel mit und war keineswegs dazu angetan, seine Wut zu beschwichtigen. Um ihr einen Augenblick für sich selbst zu geben, schwieg er und hielt den Blick auf die Hügelkuppe gerichtet, über die sie gekommen waren, bis sie schließlich bereit war, endgültig Abschied zu nehmen. Jitterbug. Vor seinem geistigen Auge sah er ein kleines, flinkes Kätzchen, das übermütig herumtollte und sie zum Lachen brachte. Die Kindheit dieser Katze lag schon weit zurück. Er verdrängte seinen glühenden Zorn und lotste die Empathin in Richtung Umspannwerk. Die Höhle in der Sierra Nevada wurde mittels vieler kleiner Solarzellen mit Energie versorgt, die sich über das gesamte Territorium verteilten – einerseits, um die Sonne ganztägig zu nutzen, hauptsächlich jedoch, um zu verhindern, dass potenzielle Feinde eine Region komplett lahmlegen konnten. Ein paar der größeren Paneele mussten erst noch ausgewechselt werden, doch die überwiegende Mehrzahl war mittlerweile so winzig, dass sie sich problemlos zwischen den Steinen der steilen Hänge verstecken ließen und sogar an Bäumen angebracht werden konnten, die zu einer bestimmten Tageszeit von der Sonne angestrahlt wurden. Gemeinsam gewährleisteten diese vielen Tausend winzigen Zellen eine ununterbrochene Stromversorgung. Es hatte bisher nie einen Störfall gegeben, aber sollte es doch einmal dazu kommen, verfügten die Wölfe sicherheitshalber auch noch über ein Wasserkraftwerk, das zusätzliche Energie erzeugte – welche über diese Trafostation ins Netz eingespeist wurde. Die Empathin stolperte zum dritten Mal und hätte sich beinahe das Knie an einem Geröllblock angeschlagen. Alexei fing sie, wie schon zuvor, auf, mit dem einzigen Unterschied, dass er diesmal ihre zierliche, kalte Hand in seine nahm. Er sah ihr fest in die Augen und sagte: »So kommen wir schneller ans Ziel.« Sie verschränkte die Finger nicht mit den seinen, aber trotz ihrer deutlich wahrnehmbaren Furcht entzog sie sie ihm auch nicht, als sie ihren Marsch fortsetzten. Er spürte die Kälte kaum; Gestaltwandler kamen mit tiefen Temperaturen wesentlich besser zurecht als Menschen oder Mediale. Seinem Wolf machten sie noch weniger aus, er würde sich geschmeidig wie ein Pfeil durch dieses Gelände bewegen. Nur könnte die Empathin ihm nicht folgen, abgesehen davon hatte er keine Ahnung, wie sie auf seine andere Hälfte reagieren würde. Die Leute vergaßen allzu gern, dass ein Gestaltwandler wie Alexei nicht erst sein Raubtier von der Leine lassen musste, um jemandem die Kehle aufzureißen. Sie hatten sich noch nicht weit von Jitterbugs Grab entfernt, als ihre Hand in seiner zu zittern begann. Die Kronen der Bäume, unter denen sie sich nun befanden, boten etwas Schutz vor dem hämmernden Regen, und sie kamen abseits der Schneeverwehungen leichter voran, doch eine Wetterbesserung war noch lange nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil. Mit zusammengebissenen Zähnen bezwang er das Bedürfnis, sie an sich zu drücken, um sie zu wärmen. Stattdessen begnügte er sich damit, weiter ihre Hand zu halten, möglichst unter dem schützenden Blätterdach zu bleiben und sie mit seinem Körper gegen den auffrischenden Wind abzuschirmen. Alexei hatte vollstes Verständnis für das frustrierte Grummeln seines Wolfs. Er könnte die Empathin viel schneller in Sicherheit bringen, wenn er sie auf die Arme nähme und losrannte. Allerdings sagte ihm sein Gefühl, dass sie in Panik geraten und Widerstand leisten oder, was noch schlimmer wäre, in eine Art Schockstarre fallen würde. Alexei wollte sie nicht noch stärker traumatisieren, als sie es durch ihre Gefangenschaft ohnehin schon war. Er schlug kein zügiges Tempo an, legte jedoch auch keine Pausen ein, damit sie sich ausruhen konnte – dafür war es schlichtweg zu kalt. Überraschenderweise machte sie nicht, wie er erwartet hätte, auf halber Strecke schlapp, sondern hielt durch, indem sie sich einen schleppenden Schritt nach dem anderen weiterkämpfte. Vorbehaltloser Respekt trat an die Stelle des Mitleids, das er eben noch für sie empfunden hatte, sein Wolf sah sie jetzt mit anderen Augen. So also hatte sie die Zeit in dem Bunker überlebt. Diese Frau war eine Kämpfernatur. Der letzte Teil des Weges führte über ein von Schneematsch bedecktes Feld, im Sommer ein beliebter Ruheplatz wild lebender Schwarzbären. Durch die Regenschleier und die aufziehende Dämmerung war das Umspannwerk nur schemenhaft erkennbar. Die orkanartigen Windböen fegten sie fast davon, als sie die letzten Meter zurücklegten. Die Empathin wehrte sich nicht dagegen, als Alexei nun doch den Arm um sie legte und sie sicher an ihr Ziel brachte. Wie jedes Bauwerk im Territorium passte sich auch dieses perfekt in die Landschaft ein. Es handelte sich um eine in die Bergflanke hineingebaute Höhle, deren Eingang in den Farben der Umgebung gestrichen worden und zusätzlich durch überhängendes Blattwerk getarnt war. Schlotternd vor Kälte harrte die Empathin neben ihm aus, während er ein gut verstecktes Paneel aufklappte und mithilfe seines Handflächenabdrucks die Tür öffnete. Ein Klicken ertönte, und er versuchte, die Empathin ins Innere zu bringen. Sie rührte sich keinen Millimeter, blieb regungslos wie eine Statue stehen. Ihr herzzerreißender Schrei traf ihn bis ins Mark.
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3 Die Fähigkeit, starke Gefühle auf das Bewusstsein eines Gestaltwandlers zu übertragen, scheint eine seltene Gabe zu sein, über welche zurzeit nur Sascha Duncan verfügt – was vermutlich nicht nur ihrem Paarungsband mit Lucas Hunter, dem Alphatier der DarkRiver-Leoparden, sondern auch dem Umstand zuzuschreiben ist, dass ihr Kind von beiden Gattungen abstammt. Saschas Gefährte und ihre Tochter sind zusätzlich über die geistige Ebene mit ihr verbunden. Um Rückschlüsse zu ziehen, benötigen wir weitere Informationen; jedes Fazit zum augenblicklichen Zeitpunkt wäre nichts weiter als ein Schuss ins Blaue. Aus dem Manuskript zu Das Geheimnis der E-Medialen: Eine Welt ohne Silentium von Alice Eldridge, mit Recherchehilfe von Sahara Kyriakus und Jaya Laila Storm (Arbeitspapier) Sein Wolf knurrte, er war nass, ihm war kalt, er wollte raus aus diesem Schmuddelwetter – und noch dringender wollte er sie ins Trockene schaffen. Er war drauf und dran, die zierliche Empathin mit der lauten telepathischen Stimme gewaltsam nach drinnen zu befördern, als es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Alexei Vasiliev-Harte, du bist ein Idiot. Er öffnete abermals das Paneel und gab einen Zugangscode ein, dann fasste er ihre widerstrebende, zur Faust geballte Hand. »Ich füge dich dem System hinzu.« Der grimmige Ton seiner Stimme entsprang seiner Wut auf die Person, die ihr das angetan hatte. »Leg sie auf den Scanner.« Die Empathin reagierte nicht; ihr Atem ging stoßweise, ihre Lippen wurden langsam blau vor Kälte. Alexei spürte seine Krallen jetzt ganz dicht unter der Haut, ihm riss der Geduldsfaden. Er packte die Frau um die Taille und hob sie hoch, um ihre Handfläche auf den Scanner zu pressen. »Öffne die Faust«, befahl er, als sie sie weiter fest geschlossen hielt. Gott, er hatte gute Lust, sie zu beißen. Merkte sie denn nicht, dass sie schon Anzeichen einer Unterkühlung zeigte? »Ich versuche, dir sozusagen einen Schlüssel zu dieser Tür zu geben.« Er vergaß seinen Vorsatz, freundlich und sanft zu sein, und fügte schroff hinzu: »Oder ziehst du es vor, hier draußen zu erfrieren? Dein Kidnapper wäre bestimmt entzückt über eine steif gefrorene Empathin. Er müsste dich nur aufheben und zurück in dein unterirdisches Verlies schaffen.« Ihr heftiger Ärger prasselte wie Ohrfeigen auf ihn ein. Sie spreizte die Finger und presste die Handfläche auf den Scanner. Auf dem Knöchel ihres Zeigefingers hatte sie eine wulstige, helle Narbe – vielleicht das Überbleibsel einer schlecht verheilten Wunde in ihrer Kindheit –, ihre Fingernägel waren an den Rändern zerfasert, aber nicht so, als hätte sie darauf herumgekaut. Eher, als wären sie abgebrochen, während sie sich irgendwo einhakten – und es hätte ihr nichts daran gelegen, den Schaden mit einer Feile zu beheben. Seinen Arm weiter um ihre Taille geschlungen, wartete Alexei, bis der Scan abgeschlossen war. Er spürte ihre stille Wut mit jeder Faser. Dann hatte diese Empathin also Temperament. Der Gedanke animierte seinen Wolf zu einem durchtriebenen Grinsen. Wenn nichts weiter nötig wäre, als sie zu ärgern, um ihr Trauma und ihre Panik zu durchbrechen, würde er jede Gelegenheit dazu beim Schopf packen. Sein Leitwolf hielt ihn aus gutem Grund für einen seiner besten Strategen – kein Wunder, dass seine Freunde ihn von ihrem Pokertisch verbannt hatten. Ein grünes Licht am Paneel verkündete, dass der Scan beendet war. Er stellte die Empathin auf die Füße, gab einen weiteren Code ein und legte zur Bestätigung noch einmal seine eigene Hand auf den Scanner. Als er ihr einen Blick zusandte, bemerkte er, dass sie das Geschehen aufmerksam verfolgte. Er hatte darauf geachtet, sich so hinzustellen, dass sie die Zugangscodes nicht sehen konnte – auch wenn sie ohne seine Hand keinerlei Änderungen hätte vornehmen können –, trotzdem entging dem Offizier in ihm ihre konzentrierte Wachsamkeit nicht. Wahrscheinlich steckte nichts anderes dahinter als ihre Sehnsucht nach Freiheit, aber solange er nicht mehr über sie wusste, durfte er auch kein verstecktes Motiv ausschließen. »Du kannst nach Belieben kommen und gehen.« Ihr Zugang beschränkte sich auf die Trafostation, sobald sie diese wieder verließen, würde er auch diese Autorisierung rückgängig machen. Er öffnete die Tür ein zweites Mal, doch als sie immer noch nicht eintrat, bediente er sich einer neuen Taktik, indem er den wilden Beschützerinstinkt unterdrückte, den dieses tropfnasse Persönchen, das er bis hierher gelotst hatte, in ihm weckte, und sich gleichgültig gab. »Ist nicht meine Aufgabe, den Babysitter für verloren gegangene Mediale zu spielen«, brummelte er laut genug, dass sie es hörte. »Wenn es dir Spaß macht, hier herumzustehen, bis dir vor Kälte die Wimpern abfallen und dein Gesicht sich hübsch blau verfärbt, mir soll’s recht sein.« Dieses Mal blieben seine Sinne von einem emotionalen Peitschenschlag verschont, jedoch entging ihm das Feuer in ihren Augen nicht, bevor er durch die Tür trat. Sollte es ruhig lodern und sie wärmen. Verglichen mit ihr war seine Tante Clementine die reinste Quasselstrippe, nur wenn sie so verärgert war, dass sie innerlich brodelte, wurde sie ganz schweigsam. Wie damals, als Alexei und Brodie die Schule geschwänzt hatten, weil sie von allem und jedem genervt waren. Das hätte Tante Min ihnen nachgesehen, aber nicht, dass die beiden Schlingel sich einfach aus dem Staub machten und zwei Tage lang »verschollen« blieben. Zur Strafe hatte sie ihnen im übertragenen Sinn das Fell über die Ohren gezogen. Alexei hatte das trotz seines zarten Alters von zwölf Jahren vermutlich verdient. Und dabei noch eine weitere Lektion gelernt: Je stiller eine Frau wurde, desto heftiger war oftmals die Wut, die in ihr tobte. Er konnte sie völlig vereinnahmen, sie stärker und durchsetzungsfähiger machen. Was nichts daran änderte, dass er die Empathin zu ihrem Glück würde zwingen müssen, wenn sie nicht bald freiwillig hereinkäme. Der Gedanke behagte ihm nicht, er wollte sie nicht nötigen und riskieren, dass sie diesen sicheren Zufluchtsort als neues Gefängnis betrachtete, aber wenn sie noch viel länger im Freien bliebe, würde sie erfrieren. Er beschloss, ihr so viel Zeit wie möglich zu geben, und trat ein. Durch das Entriegeln der Tür war automatisch die Innenbeleuchtung angegangen, und er musste mehrmals blinzeln, bis seine Augen sich nach dem grauen Zwielicht an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass keine Gegenstände im Eingangsbereich herumstanden, schüttelte er sich ausgiebig. Er tat das viel lieber in Wolfsgestalt, doch die Zeit war noch nicht reif, sich zu wandeln. Beide Teile seiner Existenz im Gleichgewicht zu halten, dem Mann die wichtigen Entscheidungen zu überlassen, war unabdingbar für sein Überleben und den Erhalt seiner geistigen Gesundheit. In diesem speziellen Punkt stimmte sein gewöhnlich eher aufmüpfiger Wolf ihm uneingeschränkt zu. Er strich sich ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn, als er vor der Tür eine Bewegung wahrnahm. Seine Haare waren ein bisschen zu lang für seinen Geschmack, obwohl er sie früher, als sein großer Bruder noch am Leben war, hatte wachsen lassen, bis er sie zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden konnte. Seit Brodies Beerdigung hatte er sich nicht mehr jung gefühlt. Die Empathin kam herein. Alexei gab sich gleichmütig, er zog seine durchweichten Stiefel aus und stellte sie neben den Eingang, bevor er ihr seinen Blick zuwandte. Sie starrte auf die Tür, die gerade wie von Zauberhand zuging. »Der Schließmechanismus ist an eine Zeitschaltuhr gekoppelt«, erklärte er. »Um Wind, Regen und wilde Tiere abzuhalten und die Technik zu schützen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand mal vergisst, die Tür zu schließen.« Sie fiel zu. Die Schultern der Empathin wurden stocksteif, sie ballte so fest die Fäuste, dass das Blut aus ihren Fingern wich. Sein Schädel klopfte vor Panik, ein schmerzhaftes, misstönendes Wummern. Wie stellte die Frau das bloß an? Er wusste, dass Sascha Duncan gelernt hatte, im Falle eines Angriffs durch jedwede Gattung ihre empathischen Fähigkeiten zur Selbstverteidigung einzusetzen, doch es hatte sie viel Zeit und Mühe gekostet, diese Methode zu entwickeln. Kein anderer Empath konnte einen Gestaltwandler auf diese Weise attackieren. Die meisten besaßen die Gabe, seelische Wunden zu heilen und traumatischen Erlebnissen die Spitze zu nehmen, egal ob es sich bei der betreffenden Person um einen Medialen, einen Menschen oder einen Gestaltwandler handelte. Aber andere mit negativen Gefühlen zu bombardieren? Das war etwas Neues. Trotzdem nahm ihn diese bis auf die Knochen abgemagerte junge Frau jetzt pausenlos telepathisch unter Beschuss. Er schüttelte den Kopf, um sich wieder zu fangen, und stieß ein Knurren aus, das von den Wänden widerhallte. Das emotionale Trommelfeuer stoppte abrupt, die Empathin erstarrte und sah ihn misstrauisch an … in ihrem Blick lag ein Anflug dieses reizenden Grolls, den er weiter zu schüren gedachte. Er zeigte auf das Paneel an der Innenwand. »Du weißt, du kannst die Tür jederzeit öffnen«, sagte er. »Hör auf, mich mit sensorischen Schlägen zu traktieren, sonst könnte ich beschließen, dich zu fressen.« Ihrer Miene nach zu urteilen, wusste sie nicht recht, was sie von der Drohung halten sollte. Fürs Erste reichte ihm das. Hauptsache, dieses panische Angstgeschrei hatte aufgehört, und sein Wolf fletschte nicht mehr die Zähne. »Ich werde einmal nachsehen, ob ich etwas Trockenes zum Anziehen für uns finde.« Alexei entfernte sich, aber seinen scharfen Gestaltwandlerohren entging nicht das Klicken, als Sekunden später die Tür geöffnet wurde und die Empathin hinausschlüpfte. Kalte, feuchte Luft wehte herein. Er schloss kurz die Augen und zählte bis zehn. »Bleib ruhig«, ermahnte er sich zähneknirschend. »Verlier nicht die Nerven.« Obwohl schon seit einem Jahr seine Stimmung an ihrem Tiefpunkt war – was seine Rudelgefährten dazu bewogen hatte, ihm eine Tasse zu schenken, auf die eine außerordentlich grimmig dreinguckende Katze gedruckt war –, konnte ihm in Bezug auf Geduld kaum jemand das Wasser reichen. Aber selbst er hatte eine Schmerzgrenze – sollte die Empathin den Verstand verloren haben und versuchen, Schnee und Regen zu trotzen, würde er sie kurzerhand zurückschleifen. Allein bei dem Gedanken hätte er am liebsten gegen die Wand getreten. Einen wilden Vogel in einen Käfig zu sperren, hatte noch nie einen guten Ausgang genommen. Entweder er würde sich bei dem Versuch zu entkommen an den Gittern die Flügel brechen, oder er würde sich einfach seinem Schicksal ergeben und verhungern. Ein verwundetes Geschöpf musste von sich aus Vertrauen fassen, es musste aus freien Stücken handeln. »Du bist ein verdammtes Raubtier«, grummelte er frustriert, nachdem der Zehn-Sekunden-Countdown abgelaufen war. »Die meisten vernunftbegabten Leute haben Angst vor jemandem wie dir. Lass sie in Ruhe.« Aber du hast sie gerettet, erinnerte ihn trotzig sein Wolf. Daran hätte die Empathin eigentlich erkennen müssen, dass er nicht vorhatte, sie zu fressen. Seine andere Hälfte knurrte vorwurfsvoll, weil er diesen blöden Spruch losgelassen hatte, und Alexei sah ein, dass es eine Dummheit gewesen war. Er würde dieser zarten Elfe nicht noch einmal mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen drohen. Er spitzte weiter die Ohren, während er Hawke eine kurze Nachricht schickte, um zu bestätigen, dass sie ihr Ziel sicher erreicht hatten. Anschließend drehte er eine Runde durch das Umspannwerk. Er war schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen, kannte sich aber bestens aus, schließlich hatte er bei dem Bau mitgeholfen. Alle männlichen und weiblichen SnowDancer-Soldaten waren verpflichtet, zusätzlich zu ihrer militärischen Schulung eine weitere berufliche Qualifikation zu erwerben. Alexei war nicht nur ein erfahrener Scharfschütze, der Rekruten in dieser Disziplin ausbildete, sondern außerdem auch ein Computerexperte, der sich weniger aufs Programmieren als auf konkrete Anwendungen spezialisiert hatte. Als einer von Hawkes zehn Offizieren trug er die Mitverantwortung für das weitläufige kalifornische Territorium und war meist zu sehr eingespannt, um sich seinem zweiten Standbein widmen zu können; dabei hatte er es immer geliebt, an neuen, brauchbaren Ideen zu tüfteln. Die Computerfachleute in seiner eigenen, nahe der Grenze zu Oregon gelegenen Satellitenhöhle zeigten sich nachsichtig, wenn er, wann immer seine Zeit es erlaubte, bei ihren Projekten mitmachte. Es förderte sein Wissen, und da niemand sich beschwerte, machte er sich anscheinend nicht allzu schlecht. Allerdings war es schon eine ganze Weile her, seit er an einem so aufwendigen Vorhaben wie dem Umspannwerk mitgewirkt hatte. Links von ihm lag das mit Stockbetten ausgestattete Schlafzimmer, das den Technikern im Bedarfsfall eine Übernachtungsmöglichkeit bot. Auf der anderen Seite des schmalen Flurs befanden sich Toilette und Dusche, gegenüber dem Eingang die Küche, von welcher rechter Hand eine verschlossene Tür zu einem klimatisierten Raum im Untergeschoss führte, in dem die ganze Technik untergebracht war. Die Zugangsberechtigung der Empathin erstreckte sich nicht auf diesen Bereich. Der Luftzug wurde jäh unterbrochen. Endlich hatte sie die Tür wieder zugemacht – von innen. Obwohl sie zitterte wie Espenlaub, sprach Trotz aus ihrer Miene. Alexei war fasziniert von dieser zarten, zornigen Frau, in deren Brust das Herz einer Löwin zu schlagen schien – Gestaltwandlerlöwinnen waren berüchtigt für ihre hartnäckige Widerspenstigkeit. Alexei hatte bisher erst drei kennengelernt, aber sie wurden ihrem Ruf in jeder Hinsicht gerecht. Niemals würde ein unterwürfiges Tier einem dominanten derart herausfordernd in die Augen sehen. Selbst sein gewohnheitsmäßig verdrießlicher Wolf war zu perplex über die Aufsässigkeit dieses schwachen Geschöpfs, um auch nur zu knurren. Es war, als würde er von einer Mücke in die Schranken gewiesen. Es drängte ihn, zu ihr zu gehen und mehr über sie in Erfahrung zu bringen, zum Beispiel, indem er sie mit den Zähnen im Genick packte, um festzustellen, wie sie reagierte. Nicht um ihr wehzutun, sondern um ihre Dominanz zu testen. Alexei verdrängte den aggressiven Impuls. Die Empathin war keine Gestaltwandlerin, rief er Mann und Wolf ins Gedächtnis. In ihrem Fall galten andere Regeln. Sie konnte nicht wissen, dass solch ein direkter, andauernder Blickkontakt mit einem dominanten Offizier in seinem Rudel als Provokation galt. Dabei behielt sie ihn sehr wahrscheinlich nur im Auge aus Angst, gefressen zu werden. Ein tiefes Grollen stieg in seiner Brust auf bei der Vorstellung, von dieser wehrlosen Empathin als Bedrohung angesehen zu werden – fehlte bloß noch, dass man ihm unterstellte, er würde seine schlechte Laune an ihr auslassen. Er stapfte ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank, dessen oberstes Regalfach mit verschiedenfarbigen, adrett gestapelten Handtüchern belegt war. Offenbar kam regelmäßig eine der Mütter hier herauf und schaffte Ordnung. Nicht dass die Techniker und Wartungsingenieure schlampig gewesen wären, aber keiner von ihnen käme auf die Idee, Handtücher zusammenzurollen wie Sushi oder den Schrank mit wohlriechenden Blütenblättern zu versehen. Diese kleinen Details, die eine Unterkunft in ein Heim verwandelten, trugen die Handschrift einer fürsorglichen Frau. Seine Mutter Calissa war von demselben Schlag gewesen. Sie hatte seine Pausenbrote in Sternform geschnitten, weil er sich seinerzeit für Astronomie begeisterte. Einmal hatte sie, während Alexei in der Schule gewesen war, mithilfe einer Schablone kleine Drachen an die Wände in Brodies Zimmer gezeichnet. Alexei und sein Bruder waren sprachlos vor Begeisterung gewesen, besonders als sie ihnen dann auch noch Pinsel in die Hände drückte, damit sie die Drachen nach ihrem Geschmack ausmalen konnten. Er atmete tief durch, die Erinnerungen schmerzten wie Glassplitter, die sich in sein Herz bohrten. Seine süße, sanfte, liebevolle Mutter war tot. Genau wie sein adrenalinsüchtiger, unbeirrbar loyaler Bruder. Sein ironischer, stets zu Scherzen aufgelegter Vater war lange vor seinem Tod verloren gewesen. Von ihrer kleinen Familie innerhalb des Rudelverbunds war nur noch Alexei übrig. Daran konnte auch Tante Min nichts ändern, so viel Mühe sie sich auch gab. Zwischen Alexeis verstorbenen Angehörigen und denen seiner warmherzigen, hingebungsvollen Tante verlief eine schmale Trennlinie, bedingt durch den Fluch, der auf der väterlichen Seite seiner Familie lastete. Zum Glück war Tante Min unberührt geblieben von der Dunkelheit, der ihre Schwester, ihr Schwager und ihr Neffe zum Opfer gefallen waren. Vielleicht hätte er der Empathin gegenüber erwähnen sollen, dass er alle zwei Wochen auf seine reizende zwölfjährige Cousine aufpasste, damit seine Tante und ihr Partner einen Abend für sich hatten. Sein Wolf tat seine Skepsis mit einem Schnauben kund, und Alexei musste ihm zustimmen: Er hatte seine Chance, sich als harmloser, netter Typ zu geben, in derselben Sekunde verschenkt, als er die Tür aus den Angeln riss. Um ihr wenig später damit zu drohen, sie zum Abendessen zu verspeisen. Bravo! Eine echte Glanzleistung. Du weißt, wie man jemanden mit seinem Charme einfängt, was, Bruderherz? Sein Magen krampfte sich zusammen, als er Brodies neckende Phantomstimme in seinem Kopf hörte, genauso hätte sein großer Bruder sich ausgedrückt, wäre er jetzt hier gewesen. Alexei nahm zwei flauschige Handtücher aus dem Schrank und warf das grüne der Empathin zu. Ihre Bewegungen waren ein bisschen ruckartig, aber ihre Reflexe funktionierten einwandfrei. Sie fing das Handtuch auf, machte jedoch keine Anstalten, es zu benutzen. Stattdessen verspürte er das sachte Tasten eines mentalen Fühlers. Als würde jemand sanft die Hand über sein Fell gleiten lassen. Er blinzelte. »Versuchst du etwa, mich zu streicheln?« Die Wahrnehmung verflüchtigte sich, als die Empathin ihm mit gefurchter Stirn den Rücken zukehrte und anfing, sich abzutrocknen. Was genau sich da eben abgespielt hatte, wusste er nicht, nur dass die Berührung zu behutsam und zaghaft gewesen war, um bedrohlich zu sein. Womöglich hatte sie ihn gar nicht gestreichelt, sondern nur angestupst, um zu sehen, ob er vor Wut die Zähne blecken würde. Er spürte das Fell seines Wolfs unter der Haut, dieser Griesgram wollte ihm ein weiteres Mal unter die Nase reiben, dass er die Empathin glauben gemacht hatte, sie könne jeden Augenblick zu einer Mahlzeit für ihn werden. Am besten mit scharfer Würzsoße. Mit finsterem Blick entrollte Alexei das dunkelblaue Handtuch. Er rieb sich damit übers Gesicht und frottierte seine Haare, bis kein Wasser mehr aus ihnen tropfte, dann ging er in das Schlafzimmer zurück und durchstöberte die große Truhe in einer Ecke. Wie erwartet, fand er darin T-Shirts, Jogginghosen und Pullis in unterschiedlichen Größen. Manche Teile waren schon etwas abgetragen, andere hingegen neueren Datums, aber alles war frisch gewaschen. »Mütter«, grummelte er, als ein getrocknetes Rosenblatt aus dem T-Shirt fiel, das er herausfischte. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Verdammt, als würde es nicht schon reichen, dass er »hübsch« war – seinen Wolf schauderte bei dem Gedanken an dieses grauenvolle Attribut, das die Leute seinem Gesicht zuschrieben. Es fehlte gerade noch, dass er zu allem Übel auch noch duftete wie eine bescheuerte Rose. Da streifte ihn kaum merklich ein anderer Geruch. Er blickte auf und sah, dass die Empathin in die Tür getreten war und ihn beobachtete. Es gab in seiner geistigen Datenbank nichts, womit er ihre Witterung abgleichen konnte. Ihr haftete etwas Fremdartiges an, zusammen mit der unerwarteten Ahnung von etwas unergründlich Dunklem. Ohne Zweifel würde er ihr jetzt, da er sie aus nächster Nähe wahrgenommen hatte, problemlos folgen können. »Wechselklamotten.« Er zeigte auf die Truhe. »Wir bewahren sie hier auf, für den Fall, dass wir in Wolfsgestalt herkommen.« Alexei war nicht der Erste, der an diesem Ort Zuflucht suchte, und locker sitzende Kleidung wie Sporthosen konnte praktisch von jedem getragen werden. Einige seiner Gefährten mochten in den Sachen zwar halb ertrinken, während sie anderen zu eng oder zu kurz waren, aber unter dem Strich kam jeder damit klar. Er wühlte sich bis zum Boden durch und förderte die kleinsten Größen zutage. »Gar nicht mal so schlecht.« Die Versorgungsmannschaft musste die Truhe für die Jugendlichen, die hier oben manchmal Trainingsläufe absolvierten, aufgestockt haben. Nicht dass es im Rudel keine zierlichen erwachsenen Personen gegeben hätte, aber sogar im Vergleich zu ihnen war die Empathin geradezu winzig. Er wählte drei Teile für sie aus. Das Sweatshirt würde ihr definitiv zu groß sein, doch das machte nichts, solange ihr die Hose halbwegs passte. Er reichte ihr die Sachen und wies mit der Hand zum anderen Ende des Flurs. »Dort ist das Bad, falls du eine heiße Dusche nehmen möchtest.« Sie hielt die Kleider mit ausgestrecktem Arm von sich weg, damit sie nicht versehentlich nass wurden. Aus ihren Haaren tropfte es immer noch, obwohl sie sie mit dem Handtuch so kräftig frottiert hatte, dass sie an manchen Stellen ganz kraus waren. »Warte.« Er nahm ein zweites, dünneres Handtuch aus dem »Sushi-Rollen«-Fach und gab ihr dieses noch dazu. »Für deinen Kopf. Es lässt sich leichter zu einem Turban schlingen als das grüne.« Ungeachtet seiner jetzigen Gemütsverfassung war er kein grober Klotz. Im Allgemeinen mochten ihn Frauen, und er hatte ausreichend Kontakt zu ihnen – als Liebhaber und als Freund –, um gewisse Dinge aufzuschnappen. Sie schaute ihn an, tastete mit undurchdringlichem Blick sein Gesicht ab, als suche sie nach etwas nicht näher Bestimmbaren. Im Gegenzug studierten Mann und Wolf sie ebenso aufmerksam, um aus dieser verlorenen Empathin mit den geistigen Krallen schlau zu werden. Der Wolf kam zu dem Schluss, dass ihm diese Möchtegern-Löwin, die den Mumm hatte, sich ein Blickduell mit ihm zu liefern, irgendwie gefiel. Dann fing sie an zu zittern. Alexei deutete ungeduldig Richtung Bad. »Los, wärm dich auf.« Ihre Augen verengten sich einen kleinen Tick, was ihn fast dazu provoziert hätte, mit den Zähnen nach ihr zu schnappen. Doch dann überlief sie ein weiteres Frösteln, und sie kapitulierte, indem sie sich auf dem Absatz umdrehte und die Dusche ansteuerte. Die Tür fiel zu, das Schloss klickte, dann hörte er Wasser rauschen. Alexei stieß einen langen Seufzer aus. Er hätte sie nicht gerne ins Bad getragen und unter die warme Brause gestellt – damit hätte er das bisschen Vertrauen, das sie zu ihm gefasst hatte, ins genaue Gegenteil verkehrt. Vermutlich hätte die unfügsame, reizbare Löwin hinter der kühlen Fassade ihm einen Tritt in die Weichteile versetzt und dabei sein Gehirn mit Wellen von Zorn geflutet. Der Gedanke entlockte ihm ein amüsiertes Lächeln. Er zog sich aus – er brauchte keine Dusche, um sich aufzuwärmen –, griff nach dem wohlriechenden Handtuch und schnupperte daran. Mist, er würde hinterher wirklich nach Rosen duften. Aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen, darum frottierte er sich so lange, bis ihm angenehm warm und sein Haar nicht mehr klatschnass, sondern nur noch feucht war. Wenigstens war kein anderer Wolf hier, um ihn wegen seines blumigen Bouquets aufzuziehen. Brodie hätte … Sein Magen zog sich zusammen, das Herz lag ihm schwer wie ein Stein in der Brust. Er entriegelte die Eingangstür, trat ins Freie und zog sie hinter sich zu, bevor er den Kopf in den Nacken legte und ein Trauergeheul zum dunklen Gewitterhimmel schickte. Wind und Regen rissen es mit sich fort, aber Schmerz und Wut waren jetzt wieder erträglicher. Er konnte an seinen Bruder denken, ohne die Welt in Stücke schlagen zu wollen. »Scheiße, Brodie.« Seine Kehle war wund, die Brust tat ihm weh, der Wolf riss mit den Krallen an seiner inneren Haut. »Scheiße.« Dieses Mal hörte er kein Echo aus vergangenen Tagen, keine lachende Phantomstimme. Sondern nur den trommelnden Regen und das Krachen des Donners, als ein Blitz den Himmel spaltete.
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4 Kurzdarstellung: Studie über wilde Einzelgänger. Diese sind ausschließlich unter den Raubtiergestaltwandlern verbreitet und waren seit Dr. Menets Genetische Anlagen von Einzelgängern (1989) nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Studien oder Abhandlungen. Scham, Angst und Trauer sind der Grund für die Zurückhaltung der Betroffenen bei diesem Thema. Wild gewordene Gestaltwandler: Zerstörte Seelen & Zerstörte Familien von Dr. Keelie Schaeffer (Arbeitspapier) Alexei ging wieder nach drinnen und trocknete sich ein zweites Mal ab, bevor er sich eine schwarze Jogginghose und ein graues T-Shirt anzog. Es spannte etwas um seinen muskulösen Oberkörper, trotzdem war es immer noch das passendste Oberteil, das er in der Truhe hatte aufstöbern können. Denn mochte er auch nicht der größte Mann im Rudel sein, so war er doch mit ansehnlichen Muskeln ausgestattet. Er würde der Versorgungsmannschaft Bescheid geben, dass die Sachen in seiner Größe zur Neige gingen – sollte Matthias auf dem Weg zur Haupthöhle hier oben haltmachen, hätte er Pech gehabt. Alexeis Freund und Kollege hatte die Statur eines Panzers. Solch banale Gedanken, an der täglichen Routine einer prosperierenden Gemeinschaft teilzuhaben, bewahrten ihm sein inneres Gleichgewicht. Er vergaß nie, dass Brodie tot war, dass man ihn hingerichtet hatte, aber inzwischen funktionierte er wieder als Offizier der SnowDancer-Wölfe, hatte zu sich selbst zurückgefunden. Nicht zu dem Alexei von einst, sondern zu dem Mann, der aus der Asche des Verrats seines Bruders erstanden war. Einen Pullover brauchte er nicht, sein Gestaltwandlerkörper empfand die Temperatur im Umspannwerk als angenehm. Er hob seine nassen Kleider und das Handtuch auf und legte alles in einem ordentlichen Haufen vor das Badezimmer. Darin befand sich ein Behälter, in dem er die getragenen Sachen mit zur Höhle nehmen konnte. Diese Lektion hatte er schon vor einer Ewigkeit gelernt. Die unerwartete Erinnerung daran ließ ihn schmunzeln. Tante Min hatte ihm und Brodie die Ohren lang gezogen, als sie im Teenageralter anfingen, Handtücher auf den Boden zu werfen. »Sehe ich aus wie eure Zofe?« Die Arme vor der Brust verschränkt, hatte sie ungeduldig mit dem Fuß aufgetippt. »Nein, das tue ich nicht – um eurer Antwort zuvorzukommen. Ich sehe aus wie eine Soldatin und werde euch zwei den Hintern versohlen, wenn ich das nächste Mal heimkomme und ein solches Chaos vorfinde.« Ein scharfer Rüffel, aber Tante Min hatte ihre strenge Art stets dadurch ausgeglichen, dass sie sie mit Liebe überschüttete, was sogar Brodie davon abgehalten hatte, jemals den Bogen zu überspannen. Jedes Mal, wenn er bei einem seiner riskanten Hoverboard-Manöver oder Rennen mit dem Geländefahrrad auf gefährlichen Pisten gestürzt war, hatte er ihre Tante zu Hilfe gerufen. Kopfschüttelnd dachte Alexei daran zurück, wie Brodie einen tückischen Wasserfall hinabgesprungen war, weil es ihm ein Freund als Mutprobe abverlangt hatte. Obwohl der Idiot sich dabei einen offenen Oberschenkelbruch zuzog, hatte er vor Stolz über das ganze Gesicht gegrinst. Alexei ging noch einmal zum Eingang zurück und gab eine Reihe von Sicherheitscodes ein. Die dünnhäutige Empathin konnte weiter kommen und gehen, wann sie wollte, nur würde das System jetzt einen Warnhinweis an sein Handy schicken, sobald die Tür ohne seine Genehmigung geöffnet würde. Alexei war sich nämlich nicht sicher, ob die Frau auch wirklich alle ihre fünf Sinne beisammen hatte. Er hatte sie in einem Gefängnis gefunden, das langfristig angelegt war. Die Sachen, die er im Kleiderschrank gesehen hatte, waren verschlissen, abgetragen und selbst für ihre elfengleiche Statur zu klein. Als wäre sie aus ihnen herausgewachsen. Sein Kiefer spannte sich an. Was hatte es bei ihr bewirkt, an einem Ort ohne Tageslicht eingesperrt zu sein, mit einer Katze als einziger Gesellschaft? Es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt funktionsfähig war – und dazu noch die Energie für Temperamentsausbrüche hatte. Sein Wolf wollte sie hochheben und voller Stolz küssen, ihr sagen, dass sie eine verdammt außergewöhnliche Person sei. Nur gab es keine Garantie dafür, dass sie nicht aus Leibeskräften schreien und in die kalte, regnerische Nacht hinausstürzen würde. Er musste um jeden Preis verhindern, dass sie sich selbst in Gefahr brachte. Seine Nasenflügel blähten sich. Die Witterung ihres geheimnisvollen Kidnappers hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt, es war neben der der Empathin und ihrer Katze die einzige in dem Bunker gewesen. Dieser Dreckskerl würde mit seinem Leben bezahlen, sollte ihm Alexei je begegnen. Jemand, der sich an wehrlosen Wesen vergriff, hatte keine Gnade von ihm zu erwarten. Genüsslich stellte er sich vor, wie er dieses verkommene Subjekt in blutige Fetzen reißen würde, und begab sich in die mit unverderblichen Lebensmitteln bestückte Küche. Er kochte Wasser und bereitete zwei Becher Tütensuppe, denen ein köstlicher, salziger Geruch entströmte. Mit knurrendem Magen stellte er sie auf den schmalen Tisch an der Wand. Er mochte ein Wolf sein, trotzdem hatte er Manieren. Früher einmal hatten die Frauen ihm sogar einen gewissen Charme nachgesagt. Doch mit Brodies Tod hatte er ihn verloren. Alexei konnte sich kaum noch an den jungen Offizier von damals erinnern, bevor sein großer Bruder sich der Wildheit seines Wolfs überlassen hatte. An die vielen Dominanzkämpfe, in die er verwickelt worden war, weil ihn manche seiner Gefährten wegen seines hübschen Gesichts für ein Weichei hielten. Jetzt hätte er eine Prügelei geradezu begrüßt, als gute Gelegenheit, seinen Zorn an einem bedauernswerten Gegner auszulassen. Die Dusche wurde abgestellt. Er konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe und förderte mehrere Fertigmahlzeiten zutage, die sich mithilfe der Mikrowelle in der Ecke in Sekundenschnelle erwärmen ließen, und stellte sie ebenfalls auf den Tisch. Da sein Wolf vor Hunger schon die Zähne fletschte – und er der Empathin keinen Schrecken einjagen wollte –, vergaß er für den Moment seine Manieren und machte sich über ein Nudelgericht her. Er hatte es zur Hälfte verschlungen, als die Badezimmertür aufging. Die Frau trug die Sachen, die er ihr gegeben hatte – hellgraue Jogginghose, ein schwarzes T-Shirt und darüber das dunkelblaue Sweatshirt, auf dem ein irre grinsendes Backenhörnchen mit Augenklappe abgebildet war. Alexeis Lippen zuckten, er hatte Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Das durchgeknallte Nagetier war das Maskottchen einer örtlichen Highschool. Aber trotz der grazilen Statur ihres Körpers, von dem er sonst noch nicht viel gesehen hatte, umgab die Empathin keinerlei jugendliches Flair. Es lag an ihren Augen. Sie wirkten unfassbar alt. Sie hatte sich das zusätzliche Handtuch um den Kopf geschlungen und festgesteckt, ihre Wangen hatten dank des heißen Wassers wieder Farbe bekommen, ein rosiger Schimmer überlagerte die kränkliche Blässe ihrer braunen Haut. Und das Feuer, das er in ihr wahrgenommen hatte, war immer noch vorhanden. Sie hatte nicht vor, ihm die Kehle darzubieten. Niedlich, ging es ihm durch den Sinn, dann ärgerte er sich über sich selbst, weil er so über dieses traumatisierte, von Trauer ausgezehrte Mädchen dachte. Aber er hatte nun einmal Augen im Kopf. Gleichzeitig war es keineswegs sein Plan, sich an sie heranzumachen. Alexei bevorzugte toughe Frauen, die sich nichts gefallen ließen – seine bisherigen Freundinnen waren ausnahmslos SnowDancer-Soldatinnen gewesen. Er würde sich niemals mit einer unterwürfigen Wölfin und erst recht nicht mit einer Heilerin einlassen. E-Mediale fielen in letztere Kategorie. Sie waren sanfte, mitfühlende Geschöpfe, die leicht verletzt, sogar gebrochen werden konnten und niemals mit jemandem Intimitäten austauschen sollten, auf dessen Familie ein Fluch lastete, wie es bei Alexeis der Fall war. Brodies Gefährtin hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt, als dieser zum gefährlichen Einzelgänger geworden war. Er hatte Etta die Kehle aufgerissen und die Bäume mit einem roten Blutnebel überzogen. Alexeis Finger krampften sich um seine Gabel, das kühle Metall verankerte ihn in der Gegenwart, als das sanfte, mitfühlende Geschöpf, das er gerettet hatte, auf ihn zukam. Die Empathin duftete nach Lavendelseife und einem Shampoo mit einer fruchtigen Note – also wirklich, wer stockte die Vorräte hier oben auf? –, vermengt mit ihrem natürlichen Geruch, warm, geheimnisvoll und unverwechselbar. Er stellte seinen Teller weg und schob ihr eine Suppentasse zu. »Hier.« Seine Stimme klang unwirsch, so sehr trieben ihn heute die Erinnerungen um. An Brodie, der immer für ihn da gewesen war und den er nicht hatte retten können. Als sein Bruder ihn brauchte, hatte Alexei sich nicht zu helfen gewusst. »Was möchtest du danach essen?« Wortlos traf sie ihre Wahl. Nachdem sie sich eine Viertelstunde lang schweigend ihrer Mahlzeit gewidmet hatten, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Ich bin Alexei«, stellte er sich nochmals vor, für den Fall, dass sie es beim ersten Mal nicht mitbekommen hatte. »Vom SnowDancer-Rudel.« Sieben Minuten verstrichen. »Memory.« Ihre Stimme klang heiser, wie eingerostet. »Mein Name ist Memory.«
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5 Kaleb Krychek, Ivy Jane Zen, Nikita Duncan, Anthony Kyriakus und Aden Kai. Das Schicksal des Medialnet liegt jetzt in ihren Händen. Wir sind nicht wie die Menschen, die sich von einer demokratisch gewählten Führung regieren lassen. Eher halten wir es mit den Gestaltwandlern, bei ihnen wird derjenige zum Alphatier auserkoren, der über die größte Macht, den meisten Respekt gebietet. Die Regierungskoalition besitzt unbestritten enorme Macht. Und sie genießt auch zunehmend Respekt. Die Frage ist nur, ob das von Dauer sein wird. Oder ob sie am Ende von Gier und Ehrgeiz korrumpiert werden wird, wie es bei so vielen unserer früheren Herrscher der Fall war. Aus einem Leitartikel des Medialnet-Bake Kaleb Krychek, doppelter Kardinalmedialer und mächtigster Mann im geistigen Netzwerk, schloss die Manschettenknöpfe aus Obsidian, die Sahara ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Funkelnd hoben sie sich von den Aufschlägen seines ebenfalls tiefschwarzen Hemdes ab und würden ihm heute bei jedem Blick darauf in Erinnerung rufen, wie Sahara sie ihm das erste Mal angelegt und ihn dabei geküsst hatte. Nur sie hatte ihm jemals Geschenke gemacht, umso mehr hielt er sie deshalb in Ehren. »Nun schau sich das einer an.« Bekleidet mit einem seiner Oberhemden, die Knöpfe nur zur Hälfte geschlossen, lehnte sie sich in die Tür zum Schlafzimmer und nippte an ihrem Vitamindrink mit Kirscharoma. »Wie soll eine Frau dir widerstehen?« Er würde sich nie daran gewöhnen, dass sie ihn auf diese Weise sah. Der Rest der Welt betrachtete ihn als einen eiskalten kardinalen TK-Medialen mit undurchsichtigen Absichten, aber für Sahara war er ihr Freund aus Kindertagen und der Mann, den sie liebte. Sahara glaubte aufrichtig, dass er sich, vor die Wahl zwischen Gut und Böse gestellt, für Ersteres entscheiden würde. Kaleb dagegen machte sich nichts vor, was sein Gewissen betraf – es war tiefschwarz und bestand nur noch aus Trümmern. Er konnte nicht mehr zählen, wie oft er Sahara schon darauf hingewiesen hatte, dass niemand außer ihr seine anständige Seite zum Vorschein brachte. Worauf sie ihm jedes Mal lächelnd versicherte, sie glaube an ihn. Es machte ganz den Eindruck, als würden sie diese Diskussion bis in alle Ewigkeit führen, und er freute sich schon auf den nächsten Schlagabtausch. »Du scheinst zu vergessen, dass die meisten Frauen Angst vor mir haben.« »Ha!« Ein schelmisches Lächeln. »Rate mal, um wen sich diesen Monat die ›Zum Fürchten, aber sexy‹-Kolumne des Wild Woman-Magazins dreht?« Derweil er diese unerwartete Information noch auf sich wirken ließ, tappte sie barfuß zur Kommode, stellte ihr Getränk darauf ab und griff nach seinem Jackett. Sie trat hinter ihn und hielt es ihm hin. »Ich werde den Artikel rahmen und an unsere Erinnerungswand pinnen.« Er schlüpfte in die Ärmel des Sakkos, während vor seinem geistigen Auge die Fotos an besagter Wand vorbeizogen, jedes einzelne ein Beleg für ihre starke Bindung. »Wieso liest du überhaupt eine Zeitschrift, die Gestaltwandlerinnen zur Zielgruppe hat?« »Weil sie toll ist, darum.« Sie ging um ihn herum und strich die Revers seines Jacketts glatt. »Mit Schlips oder ohne?« Sahara wartete nicht auf eine Antwort, sondern verschwand kurz in dem begehbaren Kleiderschrank und wählte eine schwarze Krawatte dazu. Sie schlang sie ihm um den Hals und band sie mit geübten Fingern, eine Fertigkeit, die sie sich allein seinetwegen angeeignet hatte. »Fertig.« Sie legte die Hände auf seine Brust und stellte sich auf die Zehenspitzen, zu einem Kuss, der die verdrehte, dunkle Seite in ihm, den gebrochenen, mit alten Verletzungen übersäten Jungen anrührte. »Irgendwelche Pläne, heute nach der Weltherrschaft zu streben?«, raunte sie an seinen Lippen. Ihre Vertrautheit hüllte sie ein wie ein schützender Kokon, genau das brauchten sie nach all dem Grauen und dem Getrenntsein, hätte beides Kaleb doch um ein Haar in ein Ungeheuer verwandelt. »Nicht vor dem Mittagessen«, entgegnete er trocken und nahm begierig ihr Lachen in sich auf. »Zuerst treffe ich mich mit Bowen Knight.« Er und der Sicherheitschef des Menschenbundes hatten ein schwieriges Problem zu lösen. »Außerdem muss ich einer Störung im Netz auf den Grund gehen.« Das Lächeln schwand aus Saharas Gesicht, ein Schatten legte sich über ihre blauen Augen. »Schreitet die Krankheit schneller voran?« »Nein, sie ist im Moment stabil.« Das Medialnet befand sich in einer verzweifelten Notlage. Mehr als hundert Jahre Silentium hatten sein Fundament geschwächt und Risse in dem weit gespannten geistigen Netzwerk, welches das Überleben von Abermillionen Medialen gewährleistete, verursacht. Abgeschnitten von dem Biofeedback, das dieses bereitstellte, würden sie binnen weniger Minuten sterben. Ohne die E-Kategorie wäre das Medialnet bereits zusammengebrochen. Die Empathen hielten es durch ein filigranes Netz aus emotionalen Fäden zusammen, aber selbst ihre heroischen Bemühungen waren über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt. Das Medialnet war zu schwer beschädigt – um es zu stabilisieren, wäre die Energie von Menschen erforderlich, nur hassten diese die mediale Gattung zu sehr, um sich mit deren Netzwerk zu verbinden. Jüngsten Prognosen zufolge würde es in spätestens zwölf Monaten vollständig kollabiert sein. Kaleb würde überleben. Genau wie Sahara. Er hatte die Macht, sie beide und genügend weitere Mediale aus dem Netz herauszulösen, um ein solides, unabhängiges Netzwerk zu erschaffen und sie alle mit seinen gewaltigen geistigen Kräften darin zu verankern. Das Einzige, was ihn bisher davon abgehalten hatte, war der Umstand, dass Sahara von ihm erwartete, das Richtige zu tun und dafür zu kämpfen, dass auch der Rest ihres Volks gerettet wurde. Und das würde er. Für sie. Nur für sie. Aber sollte das Verhängnis es wagen, sie ihm wegzunehmen, würde er die Welt ohne Zögern der Auslöschung preisgeben. Zunächst jedoch stand ein anderes Problem im Vordergrund, um das er sich kümmern musste. »Ich nehme eine weitere starke Präsenz im Netz wahr.« Sein Bewusstsein hatte das andere inzwischen mindestens zweimal flüchtig gestreift. »Das Dumme ist, dass die Kohärenz vom Dunklen Kopf und vom Netkopf zunehmend nachlässt.« Da die Zwillingswesenheit das »Gehirn« des Medialnet war, hatte sich die Seuche auch auf sie übertragen. »Darum habe ich noch keine näheren Informationen über dieses Individuum.« Sahara richtete seinen Hemdkragen, und obwohl Kaleb wusste, dass dazu kein Grund bestand, ließ er sie gewähren. »Meinst du mit ›starke Präsenz‹ einen Medialen, der sich auf einmal seines Potenzials bewusst wird? Vielleicht ein Kind, dessen Fähigkeiten durch Silentium unterdrückt wurden?« »Nein, es ist die Energie eines starken, aggressiven Erwachsenen. Kein erwachender Empath und auch kein begabtes Kind.« Kaleb musste herausfinden, ob die Person gute oder schlechte Absichten verfolgte und ihre geistigen Kräfte unter Kontrolle hatte. »Ein solch unberechenbarer Faktor würde das Netzwerk zusätzlich gefährden.« Kritische Areale könnten nachgeben und den Zugang Zehntausender Gehirne zum Biofeedback kappen. Die betroffenen Medialen würden auf der Stelle zusammenbrechen und von einem grausamen Tod dahingerafft, während sie verzweifelt eine Verbindung wiederherzustellen versuchten, die schlichtweg nicht mehr existierte.
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